Unvorstellbare Gräueltaten an der palästinensischen Zivilbevölkerung

Amerikanische Ärzte und Pflegefachkräfte appellieren an das Gewissen der Welt.
Offener Brief von amerikanischen Ärzten und Pflegekräften, die in Gaza gearbeitet haben an Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala D. Harris vom 2. 10.2024.

Vorab:

Mit allem Respekt und in Anerkennung des Selbstverteidigungsrechts Israels und unter strenger Verurteilung der abscheulichen Taten, die die Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung am 7. Oktober 2023 verübt haben, übersteigt das, was Israel der palästinensischen Bevölkerung an Blutzoll abverlangt unser Fassungsvermögen. Täglich sieht die Welt zu, wie die unschuldige palästinensische Zivilbevölkerung zur Flucht aufgefordert, massakriert und getötet wird. Ein Gefühl der Ohnmacht beschleicht viele mitfühlende Menschen auf der ganzen Welt angesichts dieses entsetzlichen „Schauspiels“. Auch in der israelischen Bevölkerung regt sich anhaltend Widerstand. Viele Israelis, die ihr Land verteidigt wissen wollen, sehen durchaus, dass das, was sich im Gazastreifen abspielt exzessive Züge hat und das überschreitet, was im Völkerrecht unter Selbstverteidigung verstanden wird. Und sie wollen das nicht! Viele Völkerrechtsexperten führen einen entsetzlichen Eiertanz auf. Sie wägen ab, ein bisschen hier, ein bisschen dort. Dabei muss jedem hellsichtigen Bürger klar sein: Wenn das, was sich gegenwärtig im Gazastreifen abspielt, vom Völkerrecht geschützt ist, was ist das Völkerrecht dann wert? Das Versagen vieler Juristen in Zeiten von Grausamkeit und Demokratieversagen auf der ganzen Welt ist nahezu legendär.

Nun haben sich aber 99 amerikanische Ärzte und Pflegekräfte, die gesamthaft 254 Wochen in Spitälern und Kliniken im Gazastreifen gearbeitet haben bereits zum zweiten Mal mit einem dringenden Appell, einem offenen Brief, an Präsident Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris gewendet. Auch kanadische und britische Ärzte und Pflegekräfte haben ihre Beobachtungen geschildert und Appelle an ihre Regierungen gerichtet.

Die Kolleginnen und Kollegen schreiben:

(Die in Anführungszeichen gesetzten Abschnitte der folgenden Zeilen sind Originalzitate aus dem Brief mit einer Übersetzung der Referentin.) Die Verfasser des Briefes betonen, dass sie keine Politiker seien. Sie nehmen auch nicht für sich in Anspruch Antworten zu haben. Sie gehören einfach den heilenden Berufen an, die nicht still sein können über das, was sie in Gaza während ihrer Arbeit im vergangenen Jahr gesehen haben. Zusätzlich zu ihrer medizinischen Expertise haben viele einen Public Health Hintergrund und Erfahrung darin in Konfliktzonen zu arbeiten, einschliesslich der Ukraine während der „brutalen russischen Invasion“.
Die Autorinnen und Autoren bezeichnen sich als eine der wenigen neutralen Beobachter, denen die Erlaubnis gegeben wurde den Gazastreifen seit Oktober 2023 zu überqueren und sie berichten von ihren eigenen Erfahrungen.

„Es ist wahrscheinlich, dass der Todeszoll/Blutzoll in diesem Konflikt bereits jetzt schon grösser ist als 118‘908, erstaunliche 5.4% der Population von Gaza.“

Dr. Feroze Sidhwa, Trauma- und Notfallchirurg Veterans Affairs General Surgeant schreibt:

„Ich habe niemals solche grässlichen Verletzungen gesehen in so einem massiven Ausmass mit so wenigen Ressourcen. Unsere Bomben (Anmerkung der Referentin: gemeint sind die amerikanischen Bomben) schlagen Frauen und Kinder tausendfach nieder. Diese verstümmelten Körper sind ein Monument der Grausamkeit.“
Die Autoren schreiben weiter:
„Nahezu jedes Kind unter fünf Jahren, dem wir begegnet sind innerhalb und ausserhalb des Spitals hatte sowohl wässrige Diarrhoe wie auch Husten. Wir fanden Fälle von Gelbsucht (was auf eine Hepatitis A Infektion unter solchen Bedingungen hinweist) in nahezu jedem Raum des Hospitals, in dem wir dienten und bei vielen von unseren Health Care Kollegen in Gaza. Eine erstaunlich hohe Anzahl unserer chirurgischen Inzisionen infizierte sich wegen der Kombination von Mangelernährung und unmöglichen Operationsbedingungen, der Abwesenheit von sanitären Hilfsgütern wie Seife und dem Mangel an chirurgischen Vorräten und Medikationen einschliesslich Antibiotika.“

Die Kinderkrankenschwester Asma Taha schreibt:

„Jeden Tag sah ich Babys sterben. Sie waren gesund geboren worden. Ihre Mütter waren so unterernährt, dass sie sie nicht an die Brust nehmen konnten und wir hatten keine Babynahrung oder sauberes Wasser um sie zu ernähren und so verhungerten sie.“

Die Autorinnen und Autoren schreiben an Präsident Biden und Kamala Harris:
„Wir bitten Sie dringend zur Kenntnis zu nehmen, dass Epidemien im Gaza grassieren. Die Israelis fahren fort mit den wiederholten Vertreibungen der unterernährten und kranken Population von Gaza. Die Hälfte sind Kinder und sie treiben sie in Regionen ohne fliessend Wasser oder sogar ohne Toiletten und das ist absolut schockierend. “ … „Wir machen uns Sorgen, dass unbekannte Tausende bereits gestorben sind an der letalen Kombination von Mangelernährung und Krankheit und, dass Zehntausende mehr in den kommenden Monaten sterben werden, speziell angesichts der kommenden Winterregen in Gaza. Die meisten von ihnen werden junge Kinder sein.“
Dr. Mark Perlmutter, Orthopäde und Handchirurg, schreibt:
„Gaza war das erste Mal, dass ich das Gehirn eines Babys in meiner Hand hielt. Das erste von vielen.“

Weiter schreiben die Medizinalpersonen:
„Auf der ganzen Welt sind Kinder unschuldig an bewaffneten Konflikten. Aber jeder einzelne Unterschreibende in diesem Brief sah Kinder in Gaza, die Gewalt erlitten haben, die direkt gegen sie gerichtet gewesen sein muss. Speziell, jeder von uns, der in einer Notfall- oder Intensiveinheit gearbeitet hat oder in einem chirurgischen Setting, behandelte Kinder von unter 10 Jahren, denen in den Kopf oder in die Brust geschossen worden war, regelmässig oder sogar täglich. Es ist unmöglich, dass solches weit verbreitetes Schiessen auf junge Kindern quer durch Gaza, welches sich das ganze Jahr über gezeigt hat, nur ein Unfall ist oder den hohen israelischen Zivil- und Militärbehörden unbekannt.“ … „Die Frauen müssen Vaginalgeburten oder sogar Kaiserschnitte ohne Anästhesie durchstehen und man konnte nichts anderes tun als Tylenol nachher zu geben weil keine andere Schmerzmedikation erhältlich war.“ …
… Wir alle beobachteten Notfallabteilungen überfüllt mit Patienten, die Behandlungen für chronische medizinische Probleme suchten wie z.Bsp. Nierenversagen, Bluthochdruck und Diabetes. Abgesehen von den Traumapatienten waren die meisten Intensivstationen belegt mit Patienten vom Typ I Diabetes, die keinen Anschluss hatten an Insulin. Der Mangel an Medikationerhältlichkeit, der weit verbreitete Verlust von Elektrizität und Kühlung und inkonsistenter Anschluss an Nahrung machte die Behandlung dieser Erkrankungen unmöglich. Israel hat mehr als die Hälfte der Gaza Health Care Ressourcen zerstört und hat nahezu 1000 palästinensische Medizinalarbeiter getötet, mehr als jeden 20. Health Care Worker in Gaza. Zur gleichen Zeit stiegen die Bedürfnisse an die Medizin massiv durch die letale Kombination militärischer Gewalt, Mangelernährung, Krankheit und Vertreibung. Die Spitäler, wo wir arbeiteten, hatten basale Dinge nicht, angefangen vom chirurgischen Material bis zur Seife. Sie waren regelmässig von der Elektrizität und Internetanschluss abgeschnitten, hatten kein sauberes Wasser und arbeiteten mit der fünf bis siebenfach höheren Bettenkapazität. Jedes Spital war zum Bersten überfüllt durch vertriebene Menschen, die Sicherheit gesucht haben, durch konstanten Strom von Kranken und mangelernährten Menschen, die Hilfe suchten und durch den riesigen Zustrom von schwer verwundeten Patienten, die typischerweise nach Massenangriffsereignissen bei uns eintrafen. Diese Beobachtungen und das öffentlich zugängliche Material, welches im Anhang detailliert aufgeführt ist, führt uns zur Annahme, dass der Todeszoll/Blutzoll für diesen Konflikt ein Vielfaches höher ist als berichtet wurde vom Gaza Military of Health. Wir nehmen ebenfalls an, dass es da mit hoher Wahrscheinlichkeit weitreichende Verletzungen von Amerikas Rechten gibt, die den Gebrauch von amerikanischen Waffen ausser Landes regieren und von internationalen Menschenrechten. Wir können die Szenen unfassbarer Grausamkeit gegenüber Frauen und Kindern nicht vergessen, an denen unsere Regierung direkt beteiligt ist. Als wir unsere Health Care Kollegen in Gaza getroffen haben, war uns klar, dass sie unterernährt sind und körperlich und psychisch zerstört. Wir lernten schnell, dass unsere palästinensischen Health Care Kollegen zu den meist traumatisierten Menschen in Gaza gehören, möglicherweise in der ganzen Welt. So gut wie alle Menschen in Gaza haben sie Familienmitglieder und ihr Heim verloren. Die meisten lebten in und um die Spitäler mit ihren überlebenden Familien unter unvorstellbaren Bedingungen. Obwohl sie ihre Arbeit fortsetzen mit unvorstellbaren Tagesplänen, wurden sie seit 7. Oktober nicht mehr bezahlt. Alle waren sich bewusst, dass ihre Arbeit im Medizinalbereich sie brandmarkte/markierte als Ziele für Israel. Dies macht den Schutzstatus von Spitälern und Gesundheitsdienstleistern, deren Schutz zu den ältesten und am weitesten verbreiteten akzeptierten Garantien des internationalen humanitären Rechts gehört, zum Gespött.“

An Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris richten sie folgende Forderung:
„Wir wertschätzen, dass Sie daran arbeiten ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und Hamas herbeizuführen, aber Sie haben eine wesentliche Tatsache übersehen: Die Vereinigten Staaten können einen Waffenstillstand erzwingen im Hinblick auf die Parteien durch das einfache Stoppen der Waffenlieferungen an Israel und dadurch, dass sie deutlich machen, dass sie teilnehmen an einem internationalen Waffenembargo sowohl gegenüber Israel wie auch gegenüber palästinensischen bewaffneten Gruppen.“ …
„Das amerikanische Recht ist absolut klar in diesem Bereich. Das Fortsetzen der Bewaffnung Israels ist illegal. Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris, wir flehen Sie an sofort die militärische, ökonomische und diplomatische Unterstützung an den Staat Israel zu sistieren und teilzunehmen an einem internationalen Waffenembargo gegenüber Israel und den palästinensischen bewaffneten Gruppen bis ein permanenter Waffenstillstand etabliert ist in Gaza, einschliesslich der Freilassung von allen israelischen und palästinensischen Geiseln und bis eine permanente Resolution des Israel-Palästina Konflikts ausgehandelt ist zwischen den beiden Parteien.“

Ferner fordern die Unterzeichnenden wie schon in ihrem Schreiben vom 25. Juli 2024, dass die Rafah Grenze zwischen Gaza und Ägypten geöffnet wird um anerkannten internationalen humanitären Organisationen ungehinderten Zugang zu gewähren. Die Tatsache, dass Israel Medizinalpersonen daran hindert in Gaza zu arbeiten, sogar amerikanische Bürger, mache das amerikanische Ideal, dass alle Menschen gleich geboren sind, zum Gespött und ebenso die nationalen Ideale und den medizinischen Beruf.
„Jeder Tag, der mit einer Lieferung von Waffenunterstützung und der Lieferung von Munition an Israel vonstatten geht, ist ein weiterer Tag, an dem Frauen zerstückelt werden durch unsere Bomben und Kinder mit unseren Kanonen ermordet werden.“
Die Unterzeichnenden bitten um ein Gespräch mit Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris um gemeinsam zu schauen, wie ein Änderung sofort herbeigeführt werden kann.
„President Biden and Vice President Harris: We urge you end this madness now!“
Schliessen wir uns als Ärztinnen und Ärzte und Bürgerinnen und Bürger diesem Appell an und versuchen damit mitzuhelfen dem entsetzlichen Morden an der Zivilbevölkerung in Palästina ein Ende zu setzen.

Einen Link zum Original des beschriebenen Briefes finden Sie hier.
Biden+letter+20241002.pdf (squarespace.com)

Catja Wyler van Laak, 16.10.2024