Als ich vor einigen Wochen im Schwimmbad in den Duschraum kam, sah ich vor einer der Duschkabinen einen etwa 6-jährigen Jungen, hochkonzentriert, eine Wasserpistole in der rechten Hand, die er mit der Linken stützte. Er zielte scharfen Auges direkt auf ein Gegenüber, einem kleinen Buben, der in der Duschkabine stand. Er hatte noch nicht „abgedrückt“, sondern war konzentriert damit beschäftigt die richtige Position zu finden um seinen „Schuss“ gezielt abzusetzen. Ich musste sowieso durch die „Schusslinie“ laufen und so ging ich zielstrebig auf ihn zu und sagte mit einem freundlichen aber bestimmten Lächeln: „Hier wird nicht geschossen“. Erstaunt legte der Junge seine „Pistole“ nieder. Die Mutter, die nicht aus dem hiesigen Sprachraum stammte, bedeckte die Pistole ohne ein Wort zu sagen, hastig mit verschiedenen Badeutensilien und ich ging weiter, nachdenklich. Es war ja nur eine „Spielzeugpistole“. Sie sah ziemlich echt aus und unterschied sich vor allen Dingen durch die grün gelbe Farbe von einer realen. Aber die Konzentriertheit, mit der der Junge hantierte, verstimmte mich. Was ist Frieden und wo hört er auf?
In der Ausgabe vom 10. Juni 2025 berichtete die Psychologin und Heilpädagogin Dr. Eliane Perret in der Zeitschrift „Zeit-Fragen“ unter dem Titel, „Den Diamanten in uns zum Glänzen bringen, Dr. Sumaya Farhat-Naser - Kinder und Jugendliche für den Frieden stark machen“ über einen Workshop für den Frieden für Kinder und Jugendliche. Dr. Sumaya Farhat-Naser aus Palästina setzt sich seit Jahren für Frieden zwischen Israelis und Palästinensern ein. Sie veranstaltet Workshops und Weiterbildungen um Kindern und Jugendlichen ihres Landes einen Weg in eine gemeinsame, friedvolle Zukunft zu zeigen. Der Bericht von Fr. Perret beschreibt einen Workshop, den Fr. Farhat-Naser in einer Schule in der Schweiz gehalten hat.
Es ging nicht nur darum, dass sie den Kindern Jerusalem vorstellte, eine Stadt, die für drei Religionen wichtig ist, das Christentum, das Judentum und den Islam. Sie wollte auch die Kinder in der Schweiz anleiten dem Frieden Sorge zu tragen. Viele der teilnehmenden Kinder hörten zum ersten Mal, dass Kinder im Gazastreifen seit 2 Jahren nicht mehr in die Schule gehen können und, dass diejenigen, die in der Westbank zur Schule gehen für einen Schulweg von 10 Minuten oft mehrere Stunden brauchen, weil sie weite Umwege machen müssen, von Checkpoints aufgehalten werden. „Krieg ist gegen die Menschen, alle verlieren im Krieg“.1 Aber was kann der Einzelne beitragen um das Risiko von Hass, Gewalt und Krieg zu vermindern? Was kann er beitragen in einer Welt, von der die Mutter des 2014 vom Islamischen Staat (IS) in Syrien geköpften Journalisten James Foley sagt, „Die Politik und der Krieg sind die raffiniertesten Brutstätten für Lügen.“2
In ihrem Workshop habe, so Eliane Perret, Fr. Sumaya Farhat-Naser gemeint, man müsse sich begegnen, kennenlernen und erfahren, dass der andere ein Mensch ist wie ich. „Nur mit Menschlichkeit können wir die Menschlichkeit im anderen wachhalten.“3 Fr. Farhat-Naser erzählte, zwischen den Menschen gäbe es im Grunde nur kleine Unterschiede und kein Grund sei so entscheidend, dass er ein Grund für einen Krieg sei. „Und trotzdem herrscht Krieg in meinem Land“, erzählte sie, „auch mein Sohn wurde angeschossen, als er ein Jugendlicher war. Aber wir haben gelernt zu vergeben, auch wenn wir nicht vergessen; aber mit Wut kommt man nicht weiter. Und darum muss man erst lernen mit sich selber Frieden zu machen, mit sich selber gewaltfrei zu sprechen, zu denken und umzugehen.“ Aber wie?“4 „Niemand ist mehr wert als der andere, auch wenn er sich aufspielt oder wichtig macht. Das müsst Ihr wissen“, meinte sie, „auch wenn euch jemand sagt, dass ihr dumm oder blöd seid. Es gibt keine Menschen, die wertvoller sind als andere, auch wenn sie sich unterscheiden. Findet man nicht manchmal jemanden etwas seltsam, weil er anders denkt, fühlt oder handelt-ohne zu bemerken, dass man manchmal auch etwas seltsam ist?5 Es sei eine Bereicherung, dass Menschen unterschiedlich seien. Doch manchmal fände man jemanden seltsam, man könne ihn nicht verstehen. Das könne zu Missverständnissen und Streit führen.
Interessant ist, dass offen gelassen wird wie nun Missverständnisse und Streit vermieden oder gelöst werden können. Dies wird dem Gestaltungswillen des Einzelnen überlassen und das scheint mir das Besondere an dieser Pädagogik/Friedenspsychologie zu sein. Hier gibt es keine moralischen Vorschriften, sondern es werden Grundlagen vermittelt, die für alle Menschen gelten. Die Ausgestaltung muss der einzelne Mensch selber, die Kinder mit Hilfe ihrer Eltern und Lehrer, die Erwachsenen später zunehmend in Eigenverantwortung lösen.
Fr. Farhat-Naser stellte im Workshop die Frage: „Und was macht ihr, wenn euch jemand provoziert?“6 Die Kinder hätten Vorschläge gemacht wie „zurück provozieren“, sagen, er solle aufhören, - ignorieren, - weglaufen oder zur Lehrerin gehen, „Schlagen, mit Worten und Muskeln!“ Fr. Sumaya Farhat-Naser stellte in Frage, dass es eine gute Lösung sei eine Provokation zu ignorieren und so zu tun, als würden einen die Bemerkungen des anderen gar nicht interessieren.“ Ist danach der Ärger vorbei? Fühlt man sich selbstsicher und gut? Oder ist es nicht eher so, dass man nach Hause geht und sich darüber ärgert nicht reagiert zu haben, sich ungerecht behandelt fühlt und das schmerzliche Gefühl zurück bleibt sich nicht gewehrt zu haben und schwach zu sein - verbunden mit der Angst weiter gedemütigt zu werden?“7 Auch hier gibt es keine vorgeschriebenen Antworten, eher Fragen. Wie sei das mit dem Schlagen? Mit dem Sinn nach Rache. Hinterlasse das nicht ein schales Gefühl des Triumphes? „Aber ich nehme mir selbst die Kraft und die Energie, indem ich innerlich ein nächstes Szenario der Gewalt vorbereite. Denn egal, wie stark ich zurückschlage, es macht mich nicht zufrieden. Ich bleibe gefangen im Kreislauf der Gewalt!“8
Die Grundlage, die die Friedenspädagogin den Kindern zur Lösung gibt, ist folgende: „Ich habe einen Diamanten in meinem Herzen und der andere Mensch auch.“9 „Der andere Mensch ist wie ich, auch er wurde mit einem guten Kern geboren. Ich muss aber zuerst bei mir selbst beginnen, meinen eigenen Diamanten jeden Tag zum Leuchten bringen. „Zu wissen, dass ich ein guter Mensch bin und wertvoll bin, gibt mir Kraft.“10 Dieses Gefühl befähige zu anderen Lösungen. „Ich beginne meine negativen Gedanken bewusster wahrzunehmen und lerne Ruhe zu bewahren und mich vor mir als Mensch mit Stärken und Schwächen wahrzunehmen. Meine Erlebnisse mit dem Schönen, die ich in mir trage, geben mir den Mut und die Kraft etwas Neues zu wagen.“11 Es sei zum eigenen Schutz, wenn man lerne einen Schritt zurückzutreten. So könne man das Gute in sich zum Blühen bringen. Und das sei eine gute Voraussetzung sich in den anderen zu versetzen und die Überlegung zu machen, was der andere vielleicht gemeint hat, dass es vielleicht gar nicht so böse gemeint war wie ich gedacht habe und diese Gedanken stärken und würden stolz machen. Eine Entschuldigung und eine Klärung des Problems könnten so schneller möglich werden und man käme in die Lage sich über sein eigenes grosses Herz zu freuen, das dies möglich gemacht habe. Und sogar dann, wenn der Andere nichts von mir wissen wolle und nichts mit mir klären wolle. Er wolle weder mit mir sprechen, noch mich wiedersehen, könne derjenige stolz sein, denn er habe mit seinem Inneren den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt erkannt und zu stoppen versucht und das mache stark.12
Diese wertvollen Anleitungen können, so sie „verinnerlicht“ und mit eigenen Konzeptionalisierungen Teil der Identität werden, helfen auch in höchsten Belastungssituationen „Würde“ zu bewahren und Konflikte gewaltfrei und ohne Rache zu lösen.
So berichtet der Gründer der Logotherapie, Victor Fankl, (1905-1997), in seinem Buch „Trotzdem ja zum Leben sagen - ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ ungeschminkt über Demütigung, Erniedrigung, Pein und fürchterliche Qualen. Dennoch beriet er einen der Aufseher, einen Nichthäftling und einen Nazi im KZ in einem Ehekonflikt. Dies brachte ihm ein minimales Quäntchen Wohlwollen ein. Victor Frankl versuchte auch unter den furchtbaren Bedingungen der KZ Haft immer Psychotherapeut, Psychologe, Arzt zu sein, seinen minimalen Spielraum zu nutzen, seine Mithäftlinge zu ermutigen sich und das Leben nicht aufzugeben. Er versuchte die Mithäftlinge zu ermutigen sich auf die Zukunft auszurichten. Wer daran nicht mehr glaube, habe verloren.13
Als Arzt meldete sich Victor Frankl für die Fleckfieberabteilung im KZ. Er wusste, das könnte seinen sicheren Tod bedeuten, aber gleichzeitig hatte er das Gefühl seinem Dasein bis zum Schluss seines Lebens einen Sinn geben zu wollen und da er Arzt war, versuchte er auf seine Art für sterbenskranken Mitmenschen da zu sein. In dieser Zeit hatte er eine kleine Erfolgschance zu fliehen und hat dies auch erwogen. Wie als hätte er es geahnt, fragte ein Patient, ob er auch gehen würde. Daraufhin entschloss er sich, nicht zu fliehen und bei seinen Patienten zu bleiben. Er nahm die innere Freiheit, die ihn in einer nahezu ausweglosen Situation dazu brachte Mensch zu bleiben und seinem Leben einen Sinn zu geben wahr.
Victor Frankl erinnert in seiner Publikation an Folgendes.
„Menschliche Güte kann man bei allen Menschen finden, sie findet sich also auch bei der Gruppe, deren pauschale Verurteilung doch gewiss sehr naheliegt.“14 (Hervorhebung durch Referentin) … „Auch unter der Lagerwache gab es Saboteure. Ich will hier nur jenen Lagerführer aus dem Lager, in dem ich zuletzt war und aus dem ich befreit wurde, erwähnen. Er war ein SS-Mann. Nach der Befreiung des Lagers stellte sich jedoch heraus, wovon bis dahin nur der Lagerarzt (selber ein Häftling) wusste. Der Lagerführer hatte aus eigener Tasche nicht geringe Geldbeträge insgeheim hergegeben, um aus der Apotheke des nahen Marktfleckens Medikamente für seine Lagerinsassen besorgen zu lassen! Die Geschichte hatte ein Nachspiel: Nach der Befreiung versteckten jüdische Häftlinge den SS-Mann vor den amerikanischen Truppen und erklärten deren Kommandanten gegenüber, sie würden ihm den SS-Mann einzig und allein unter der Bedingung ausliefern, dass ihm kein Haar gekrümmt wird. Der amerikanische Truppenkommandant gab ihnen nun sein Offiziersehrenwort, und die jüdischen Häftlinge führten ihm den gewesenen Lagerkommandanten vor. Der Truppenkommandant ernannte den SS-Mann wieder zum Lagerkommandanten-und der SS-Mann organisierte für uns Lebensmittel und Kleidersammlungen unter der Bevölkerung der umliegenden Dörfer.
Der Lagerälteste eben dieses Lagers jedoch, also ein Häftling, war schärfer als alle SS-Wachen des Lagers zusammen; er schlug die Häftlinge, wann und wo und wie er nur konnte, während beispielsweise der Lagerführer meines Wissens kein einziges Mal die Hand gegen einen „seiner“ Häftlinge erhoben hat. Daraus ersieht man eines: Mit der Kennzeichnung eines Menschen als Angehörigen der Lagerwache, oder umgekehrt als Lagerhäftling ist nicht das Geringste gesagt.“ … „So einfach dürfen wir es uns nicht machen, dass wir erklären: die einen sind Engel und die andern sind Teufel. Im Gegenteil: Entgegen der allgemeinen Suggestion, die sich im Lagerleben auswirkt, als Wachtposten oder Aufseher den Häftlingen gegenüber dennoch menschlich zu sein, ist und bleibt irgendwie eine persönliche und moralische Leistung; andererseits ist die Niedertracht eines Häftlings, der seinen eigenen Leidensgenossen Übles antut, besonders verwerflich. Dass die Charakterlosigkeit eines solchen Menschen die Lagerhäftlinge besonders schmerzt, ist ebenso klar wie anderseits die tiefe Erschütterung, mit der ein Häftling die geringste Menschlichkeit entgegennimmt, die ihm etwa von einem Wachtposten erwiesen wird.“ … „Aus all dem können wir lernen: Es gibt auf Erden zwei Menschenrassen, aber auch nur diese beiden: Die „Rasse“ der anständigen Menschen und die der unanständigen Menschen. Und beide „Rassen“ sind allgemein verbreitet: In allen Gruppen dringen sie ein und sickern sie durch; keine Gruppe besteht ausschliesslich aus anständigen und ausschliesslich aus unanständigen Menschen, in diesem Sinne ist also keine Gruppe „rassenrein“ – nun, und so gab es den einen oder andern anständigen Kerl eben auch unter der Wachtmannschaft!“ … „Wir haben den Menschen kennengelernt wie vielleicht bisher noch keine Generation. Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist.“15 (Hervorhebung durch Referentin)
Aus dem KZ befreit lief Victor Frankl wenige Zeit später mit einem Lagerkollegen an Feldern vorbei. „Wir gehen z.B. querfeldein, ein Kamerad und ich, dem Lager zu, aus dem wir vor Kurzem befreit wurden; da steht plötzlich vor uns ein Feld mit junger Saat. Unwillkürlich weiche ich aus. Er aber packt mich beim Arm und schiebt mich mit sich mittendurch. Ich stammle etwas davon, dass man doch die junge Saat nicht niedertreten soll. Da wird er böse: In seinen Augen zuckt ein zorniger Blick auf, während er mich anschreit: „Was Du nicht sagst! Und uns hat man zu wenig genommen? Mir hat man Frau und Kind vergast-abgesehen von allem andern-, und Du willst mir verbieten, dass ich ein paar Haferhalme zusammentrete.“ … „-nur langsam kann man diese Menschen zurückfinden lassen zu der sonst so trivialen Wahrheit, dass niemand das Recht hat, Unrecht zu tun, auch der nicht, der Unrecht erlitten hat.“16 Oftmals äussere sich diese Problematik in belanglos erscheinenden Kleinigkeiten. „Und doch müssen wir daran arbeiten diese Menschen zu dieser Wahrheit zurückfinden zu lassen, denn die Verkehrung dieser Wahrheit könnte leicht auch schlimmere Folgen haben als den Verlust von einigen tausend Haferkörnern für einen unbekannten Bauern.“17 Die Legitimation von Unrecht damit, dass man selber Unrecht erlitten habe, führe zu einer Deformierung der Persönlichkeit.“
Weinen über erlittenes Unrecht dagegen sei Mut, so Frankl. Es zeige, dass man das Leid verstehe, welches einem angetan wurde und sich nicht scheue den Mitmenschen daran auch teilhaben zu lassen.
Erinnern diese Darlegungen nicht an die Grundlagen, die auch Fr. Sumaya Farhat-Naser zu vermitteln versucht?
Am Anfang dieses Beitrags habe ich Diane Foley zitiert, die meinte, die Politik und der Krieg seien die raffiniertesten Brutstätten für Lügen.
Lüge und Propaganda sind für den erwachsenen Menschen eine der grössten Risiken, sich im Namen des „Guten“ für Gewalt und Hass einspannen zu lassen. Die meisten Kriege stellen sich als „Verteidigungskriege“ dar. Im Namen des Guten. „Im Namen der Menschlichkeit.“ Kaum ein Kriegspropagandist wird einräumen, dass seine Intervention sinnlos ist und für alle nur Opfer bringt. (siehe dazu auch weiter unten) Hier liegt eine der grössten Fallen, denen sich die Sozialnatur der Menschen gegenüber sieht.
Eine interessante, unkonventionelle Herangehensweise wie es der Einzelpersönlichkeit möglich werden kann Hass zu vermeiden, liefert Diane Foley, die Mutter des vor laufender Kamera enthaupteten US-Journalisten James Foley. Diane Foley ist eine „Amerikanische Mutter“. In ihrem Buch „American Mother, eine Geschichte von Hass und Vergebung“18 stellt sie ihre Entwicklung dar, nachdem sie erfahren musste, dass ihr Sohn nach zweijähriger Gefangenschaft in den Händen des Islamischen Staates in Syrien geköpft worden ist. In der umfassenden Darstellung ihrer persönlichen Entwicklung erwähnt sie den Irakkrieg 2003, die Interventionen der USA in Libyen, Syrien und die Interventionen der USA im Rahmen des „Arabischen Frühlings“. Das Wort „Völkerrecht“ kommt im ganzen Buch nicht ein einziges Mal vor und es zeigen sich auch keine ernsthaften Zweifel daran, dass die Interventionen der USA notwendig und nicht aggressiv und zerstörerisch gewesen seien. Dies, obwohl sie den Krieg grundsätzlich ablehnt und durchaus Kritik an ihrem Land übt. Sie macht eine ganz persönliche Entwicklung durch. „Ich begann darüber nachzudenken, dass eine unserer verhängnisvollsten Eigenschaften in unserem Unvermögen besteht Konflikte in Teilen der anderen Welt zu verstehen. (Anmerkung der Referentin: mit „unserem“ meint sie die USA) Oft versuchen wir gar nicht erst, unsere Feinde zu begreifen. Man kombiniere diese ignorante Haltung mit einem Mangel an Empathie und Einsatzbereitschaft, füge rücksichtslos operierende Geheimdienste hinzu, und heraus kommt die Erfolgsformel einer Nation, die glaubt, stets das Richtige zu tun. Mir kam es allerdings so vor, als würden wir uns mit dieser Formel ziemlich häufig selbst ins Bein schiessen. Man kann nichts lernen, was man schon zu wissen glaubt. Das ist Amerika. Wir halten uns für allwissend und darum lernen wir nichts dazu.“19
Im Internet sieht die 1948 geborene, in mittelständigen Verhältnissen lebende Ehefrau und Mutter, die von sich und ihrem Leben sagt, „Wir schwammen mit dem Strom“,20 wie auf den furchtbaren Mord an ihrem Sohn mit Hass und Aufrufen zur Gegengewalt reagiert wird. Obwohl selbst tief erschüttert und getroffen, versucht sie sich diesem Strom zu Hass- und Gewaltaufrufen nicht anzuschliessen. Dabei steht sie fast alleine da. Was ihr hilft ist ihr tiefer katholischer Glaube. Hin- und hergerissen zwischen Schmerz über den Verlust, Patriotismus und Zweifel an ihrem Vaterland ringt sie sich persönlich zu einer Haltung der Vergebung durch. Über die Konsequenzen für die Mörder ihres Sohnes, Briten, die sich dem IS angeschlossen hatten und bei dem Versuch von Syrien in die Türkei zu gelangen verhaftet und an die USA ausgeliefert wurden, sagt sie: „Wir waren ebenso gegen die Todesstrafe wie gegen die Haft in Guantanamo. Wir wollten, dass die Mörder unseres Sohnes vor einem ordentlichen Gericht zur Rechenschaft gezogen wurden. Die Briten hatten umfangreiche Beweismittel gegen sie, konnten diese aber nicht freigeben, so lange die Vereinigten Staaten nicht die Todesstrafe ausschlossen, was die Trump-Administration sich zunächst zu tun weigerte.“21 Diane Foley gründete eine private Organisation, die sich für den Schutz von unabhängig arbeitenden Journalisten in Krisen- und Kriegsgebieten einsetzt. Sie nimmt in Kauf, dass sie im Laufe ihrer Entwicklung von Politikern und Journalisten oft eher belächelt und gerade noch geduldet wird. Ihre politische Analyse und die Analyse der Persönlichkeit ihres Sohnes ist m.E. alles andere als objektiv und analytisch konsistent, aber sie arbeitet sich, angewidert von dem sie umgebenden Hass, der Gewaltbereitschaft und den Lügen zu einer Haltung der Vergebung durch, im Rahmen derer sie in einer abschliessenden Begegnung mit einem der Mörder ihres Sohnes diesem im Gefängnis gegenübersitzt, verstehen will, was war, ihm die Hand reicht, die er nimmt und ihm sagt, „Friede sei mit Ihnen“.22
Das Buch von Diane Foley war für mich persönlich eine Herausforderung. Ich stimme weder der Analyse der Motivationen für Kriegseinsätze der USA zu (z.B. die Forderungen der Entführer ihres Sohnes hätten einen Stopp der Luftangriffe der USA im Nordirak beinhaltet, „mit denen die USA den drohenden Völkermord an den dort lebenden Jesiden verhindern wollten“);23 Ich bin auch nicht der Auffassung, dass Ihr Sohn Jim ein Journalist war, der nur die Wahrheit herausfinden wollte, und dabei getötet wurde. Jim, der Journalist, der zwei Jahre vorher bereits einmal in Libyen im Kriegsgeschehen gefangen genommen worden war und dank des grossen Einsatzes innerhalb der USA wieder freikam, sagte über seine Motivation nach Syrien zu gehen: „Ich wollte den Punkt überschreiten, an dem die Mehrheit nicht weiterkommt, und an besseres Material gelangen, weil ich dort der Einzige war.“ Seine Devise lautete: „Früher da sein, länger bleiben, dichter rangehen.“24
Es stimmt mich jedoch nachdenklich, dass es Fr. Foley trotz in meiner Beurteilung zahlreicher Inkonsistenzen, so umfassend gelungen ist, schlussendlich nicht „mit dem Strom des Hasses und der Gegengewalt“ zu schwimmen, sondern sich zu einer Vergebung durchzuringen, die schwer erarbeitet, aber durch und durch aufrichtig erscheint. Es stellt sich hier die Frage, was befähigt einen erwachsenen Menschen dazu diese Haltung einzunehmen, auch wenn die Analyse zumindest in meinen Augen wie es Fr. Farhat-Naser ausdrückt, etwas „seltsam“ anmutet. Und hier komme ich auf den Beitrag von Fr. Farhat-Naser und auch auf die Darlegungen von Victor Frankl zurück. Es ist nicht immer möglich das Gewirr von Lüge und Propaganda zu durchschauen. Es braucht vielleicht auch gar nicht zwingend die Fähigkeit und das Wissen zu einer umfassenden politischen Analyse. Wichtig ist es, in der Identität des Menschen zu verankern, dass Hass, Gegengewalt und Rache keine Lösungsmöglichkeiten darstellen.
Wir Erwachsenen müssen uns zudem bewusst davor schützen, dass unsere Fähigkeit zum Mitgefühl durch die Informationen, die wir erhalten, nicht „abgeschliffen“ wird. Ein solches Beispiel für „Abschleifen“ zeigte sich meines Erachtens im Umgang der meisten Journalisten mit der „Operation Spinnennetz“ der Ukraine, im Rahmen derer die Ukraine am 1. Juni 2025 auch nuklear ausgerüstete Bomben tief im inneren Russlands ins Visier nahm und in diesem Zusammenhang umfassende Zerstörungen angerichtet haben soll. Enthusiastisch sprachen die meisten hiesigen Journalisten von einem „Pearl Harbor“ Moment. Hier zeigen sich m.E. zwei schwerwiegende Probleme unseres gegenwärtigen Journalismus. Das erste ist ein umfassendes sozioemotionales Defizit, welches leichtfertig und voller Schadenfreude den Vergleich mit „Pearl Harbor“ zieht. Zur Erinnerung: Pearl Harbor ist ein Hafen auf einer Insel in Hawaii und wurde am 7. Dezember 1941 von den Japanern angegriffen, was den Eintritt der USA in den 2. Weltkrieg zur Folge hatte. „Pearl Harbor“ „endete“ mit dem Abwurf zweier Atombomben in „Hiroshima“ und „Nagasaki“, einem der grausamsten Denkmale von Gewalt, die die Menschheit je erlebt hat; für den Ausgang des Krieges war der Abwurf dieser beiden Bomben nicht entscheidend. Er hat nur unermessliches Leid über eine Unzahl von Menschen gebracht.
Wie armselig steht es um unsere Journalisten, wenn sie, selbst wenn es zutreffen würde, „locker vom Hocker“ diesen ukrainischen Angriff mit Pearl Harbor vergleichen, voller Enthusiasmus und Schadenfreude. Ich persönlich habe mit umfassender Abscheu auf diese Art der Präsentation reagiert und habe mich gefragt, ob das die Menschen sind, von denen wir uns informieren lassen wollen.
Ein zweites Problem ist, dass ich überzeugt davon bin, dass neben dieser für meine Begriffe ausgeprägten sozioemotionalen Armut viele Journalisten auch oft einen erschreckenden Kenntnismangel aufweisen. Dies ist ein Umstand, auf den der unabhängig arbeitende amerikanische Journalist Patrick Lawrence in seinem 2025 im Deutschen erschienenen Buch „Journalisten und ihre Schatten-Zwischen Medienkonzernen und unabhängiger Berichterstattung“ neben vielen anderen Aspekten aufmerksam macht.25 Einige Journalisten schienen in der Tat gemeint zu haben, dass Russland, was immer man von der russischen Führung hält, so dumm gewesen sei die atomaren Bestandteile seines militärischen Systems ungeschützt zu präsentieren. Einige scheinen nicht gewusst zu haben, dass es sich dabei um einen Teil eines im Januar 2021 zwischen den USA und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgehandelten Abkommens handelt, „Strategic Arms Reduction Treaty“ (SART), welches u.a. beinhaltet, dass diese militärischen Bestandteile nicht versteckt oder abgedeckt werden; dies zur besseren gegenseitigen Kontrolle. Dieser Vertrag ist bis 2026 trotz inzwischen proklamierter gegenseitigen Einschränkungen von Russland und den USA weiterhin gültig.
Meiner Auffassung nach ist auch ein Journalist, der beurteilt, ob eine Nation einen „gerechten Krieg“ führt verpflichtet seinen Lesern mitzuteilen, (so er es denn weiss) dass dieser Begriff quasi ein „Terminus technicus“ ist („Jus ad bellum“). Die Weltgemeinschaft hat sich geeinigt, dass weder eine Nation noch ein Journalist die Kompetenz hat zu beurteilen, ob die Ausnahme eines „gerechten Krieges“ gerechtfertigt erscheint. Sie hat als legitime Autorität in diesem Kontext die UNO beauftragt, insbesondere auch den UNO Sicherheitsrat. Obwohl die praktische Umsetzung von Anfang an „holprig“ war und ist, ist dies nach dem 2. Weltkrieg ein zivilisatorischer Fortschritt gewesen, an dem zwingend festzuhalten ist.
Auch der Verfasser eines journalistischen Beitrags, der das Leiden der Bevölkerung im Gazastreifen als „Kollateralschaden“ bezeichnet, ist für mich in diesem Kontext fachlich und menschlich „unten durch“. (dies ungeachtet seiner politischen Position, die es zu respektieren gilt) Der Begriff des „Kollateralschadens“ impliziert hier die totale Entmenschlichung der Person.
Die sozioemotionale Armseligkeit einer solchen Berichterstattung und einer solchen Politik musste auch die "Amerikanische Mutter“ erfahren. Aber etwas muss sie in ihrer Persönlichkeit haben, das es ihr ermöglichte einen Vergebungsansatz zu finden, diesen zu praktizieren und dem sinnlosen Tod ihres Sohnes durch die Schaffung einer Organisation zum Schutze unabhängig arbeitender Journalisten sogar noch einen gewissen „Sinn“ im Sinne einer gewaltfreien Konfliktlösung zu geben.
Am Ende ihrer Odyssee versuchte Diane Foley selbst im IS Terroristen, dem grausamen Mörder das „Menschliche“ zu sehen, wie es Fr. Sumaya Farhat-Naser Kindern und Jugendlichen zu vermitteln versucht. Wenn es uns gelingt, dass dieser Ansatz Teil unserer Identität wird, kann es jedem Einzelnen unabhängig von der uns umgebenden Politik und der oftmals erschütternd armseligen Berichterstattung gelingen einen Beitrag zum Frieden zu leisten.
Die neutrale Schweiz wäre in der Position, sofern sie gewillt ist ihre umfassende Neutralität beizubehalten und in der Lage ist die Fehler der vergangenen Jahre zu korrigieren, auch als Staat in diesem Sinne wirksam zu sein. Denn, was anderes bedeutet die neutrale Vermittlung zwischen Kriegsparteien ohne selbst Position zu beziehen, aber auch ohne zu verhehlen, dass jegliche Form von Gewalt keine Lösung sein kann anderes als „Den Diamanten in uns zum Glänzen (zu) bringen.“ Wer auch nur eine minimale Ahnung davon hat, was Krieg bedeutet, darf froh sein in einem Land zu leben, welches keinem Bündnis angehört und angesichts dessen, dass es von allen Parteien als neutral angesehen werden könnte (und wir hoffen, dass dieser Fall bald wieder eintritt), eine grössere Chance als andere Länder hat nicht Opfer eines Kriegsgeschehens zu werden. Nur eine von allen Konfliktparteien als neutral angesehene Schweiz kann mithelfen, dass der Frieden erhalten bzw. wiederhergestellt wird.
Catja Wyler van Laak, 30.6.25
1 Dr. Eliane Perret; „Den Diamanten in uns zum Glänzen bringen“; Zeit-Fragen Nr. 13; 10. Juni 2025; S. 8.
2 Colum McCann mit Diane Foley; „American Mother; Eine Geschichte von Hass und Vergebung“; Rowohlt 2025; S. 74.
3 Perret Eliane; „Den Diamanten in uns zum Glänzen bringen“; in: Zeit-Fragen Nr. 13; 10.6.2025; S. 8.
4 Ebenda.
5 Ebenda.
6 Ebenda.
7 Ebenda.
8 Ebenda.
9 Ebenda.
10 Ebenda.
11 Ebenda.
12 Ebenda.
13 Frankl Victor; „Trotzdem ja zum Leben sagen; Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“, 1977, Neuausgabe 2024 (e-Book); S. 142.
14 Ebenda, S. 159/160.
15 Ebenda, S. 159-161.
16 Ebenda, S. 168.
17 Ebenda, S. 169.
18 Colum McCann mit Foley Diane; „American Mother; eine Geschichte von Hass und Vergebung“; Rowohlt 2025.
19 Ebenda, S. 149/150.
20 Ebenda, S. 83.
21 Ebenda, S. 207.
22 Ebenda, S. 263.
23 Ebenda, S. 167.
24 Ebenda, S. 129.
25 Lawrence Patrick, „Journalisten und ihre Schatten. Zwischen Medienkonzernen und unabhängiger Berichterstattung“; ProMedia 2025.
Zweitveröffentlichung in der Online-Zeitschrift ZE!TPUNKT am 2. Juli 2025 https://www.zeitpunkt.ch/der-diamant-im-eigenen-herzen-zur-psychologie-des-friedens